Leseprobe: Der Fluch der Schönheit

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Leseprobe

Kapitel 1

Rosenmontagsball 2010

Kommissar Ralf Rodigs Begeisterung, mit Nancy zum Rosenmontagsball der Naumburger Faschingsgesellschaft zu gehen, hielt sich in Grenzen.
„Das ist doch nichts für mich“, hatte er gesagt, als sie ihn in seiner Wohnung besuchte und mit zwei Eintrittskarten für den Ball vor seinem Gesicht herumwedelte.
„Na gut“, hatte sie schnippisch geantwortet, „wenn sich der Herr Kriminalhauptkommissar für derartige Vergnügungen zu alt fühlt, suche ich mir einen anderen Begleiter. Die Karten lass ich nicht verfallen.“
Ralf Rodig, Leiter des Kriminalkommissariats im Burgenlandkreis, hatte sich in den mehr als zwanzig Jahren, die er hier lebt, an die unbeschwerte Lebensart der Einheimischen gewöhnt. Für Veranstaltungen dieser Art hatte er aber wenig Verständnis.
Vor drei Jahren hatte er bei einer Vernissage im Naumburger Kunstverein Nancy Kaminsky kennengelernt, die grazile Malerin mit dem eigenwilligen roten Kurzhaarschnitt und den feenhaften Bewegungen. Ihre Erscheinung hatte ihn beeindruckt, ihre abstrakten Gemälde waren ihm jedoch bis heute fremd und  rätselhaft geblieben.
Dem Besuch des Faschingsballs hatte er dann notgedrungen zugestimmt, da auch gemeinsame Freunde zugesagt hatten, daran teilzunehmen.
Als Nancy ihn aber wissen ließ, dass auch sie, wie ihre Freundinnen, an dem Wettbewerb „Das Kostüm des Abends“ teilnehmen wolle, bereute er seinen Entschluss.
„Als was willst du gehen?“, fragte er neugierig.
„Als Nofretete“, sagte sie und streifte unbekümmert über ihren Kurzhaarschnitt.
„Sagtest du Nofretete?“
„Ja – als Nofretete! Was wundert dich?“
„Meinst du die ägyptische Königin?“
„Ja – die. Gibt es denn noch eine andere Nofretete?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein – ich kenne auch nur die eine.“ Er stellte sich vor, wie sie wohl als ägyptische Königin aussehen würde.
„Und – was denkst du?“, fragte sie und blickte ihn herausfordernd an.
„Nun ja“, murmelte er, „ich kenne eigentlich nur die Büste. Ich     kann mir nicht vorstellen, wie sie als ganze Frau ausgesehen hat.“
„Das weiß man schon“, entgegnete Nancy bestimmt. „Von Wandgemälden und Reliefs kennt man sie in ihrer verführerischen Pracht. Sie muss verdammt attraktiv gewesen sein.“
„Willst du auch diesen Hauch von Kleidung tragen?“, fragte er verlegen.
„Natürlich – wenn ich mich verkleide und an dem Wettbewerb teilnehme, will ich meine Chance auch nutzen“, erklärte sie. „Jenny wird als Uta, Silvia als Reglindis und Britta als die Gräfin Bechta gehen.“
„Die drei als Stifterfiguren vom Dom kann ich mir vorstellen, aber dich als Nofretete…?“ Er holte tief Luft, ging um sie herum und musterte sie von oben bis unten.
„Warum gerade als Nofretete?“, fragte er mit grüblerischem Gesichtsausdruck und zog sie an sich.
Nancy machte eine wirsche Körperbewegung und schob ihn zurück. „Weil ich sie schon seit meiner Jugendzeit bewundere.   Sie ist für mich die schönste Frau, höchstens unsere Uta kann es  mit ihr aufnehmen. Darum möchte ich einmal in ihre Rolle schlüpfen und mich als Königin fühlen. Meine Kosmetikerin wird mich stylen  und das Kleid werde ich selber nähen. Ich habe mir Vorlagen ausgedruckt und den Seidenchiffon schon besorgt. Du wirst sehen, ich werde majestätisch wirken.“
Rodig ärgerte sich, wieder einmal Nancys feinsinnigem Charme erlegen zu sein. Was werden meine Polizeikollegen denken? Ich, der allseits respektierte Kriminalhauptkommissar, als Lakai der ägyptischen Königin. Ein ungutes Gefühl machte sich breit.
Ralf Rodig hatte im Umgang mit Frauen so seine Probleme. Seine  Ehe war gescheitert. Er hatte sich zu wenig Zeit für seine junge   Frau genommen und seinen beruflichen Verpflichtungen stets Vorrang gegeben. Auch als ihr Sohn Reinhard auf die Welt kam, änderte er seine Gewohnheiten nicht. Immer häufiger fuhr seine  Frau mit Reinhard in die Heimat, wo sie für mehrere Tage bei ihren Eltern blieben. Sie entfremdeten sich immer mehr. Das Ergebnis war eine einvernehmliche Scheidung.
Ralf Rodig, ein ansehnlicher Mann Anfang fünfzig, achtete auf ein gepflegtes Aussehen und dezente Kleidung. Nur mit Unbehagen hatte er sich in den ausgeliehenen Smoking gezwängt. Unter den Armen war er zu eng, der Stoff glänzte an Ellbogen und Knie.   Damit er nicht für einen Kellner gehalten werde, hatte Nancy ihm  eine bunte Papiergirlande um den Hals geschlungen und eine Kapitänsmütze aufgesetzt.
Rodig war erstaunt, mit wie viel Einfallsreichtum und kreativem Geschick sich die Damen und Herren für diesen Abend  herausgeputzt hatten. Die Stifterfiguren vom Dom begegneten ihm wiederholt. Mehrere Ekkehards stolzierten in würdevoller Haltung über das Parkett. Utas gab es in Groß und Klein, schlank und auch mit üppiger Fülle.
Mächtig stolz war er auf Nancy, die wie eine wahrhaftige ägyptische Königin aussah und allseitig bewundert wurde.
Die ausgelassene Stimmung im bunt dekorierten Rathaussaal und Nancys gute Laune sorgten dafür, dass sich Ralf Rodig allmählich  von der Woge der Leichtigkeit und Fröhlichkeit mitreißen ließ. Vergnügt tanzten und amüsierten sie sich. Nur schwach vernahm er die Vibration seines Handys.
Sein Freund, Polizeimeister Fritz Andersen, meldete sich: „Es tut mir leid, euch an diesem Abend zu stören“, sagte er, „aber die Pflicht ruft. Edgar wird dich gleich abholen.“
Nancy machte ein enttäuschtes Gesicht, sie hasste diese Anrufe,   die nie Gutes bedeuteten. Er entschuldigte sich und verabschiedete sich von ihr mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange.
Er holte seinen Mantel aus der Garderobe und schenkte die Papiergirlande der Garderobenfrau. „Müssen Sie schon gehen –    Herr Kommissar?“, krächzte die kleine Frau mit heiserer Stimme mitfühlend. „Sie verpassen das Beste vom Abend, die Prämierung  der ‚Schönsten’. Frau Kaminsky sieht als ägyptische Königin wunderschön aus. Ich und meine Kollegen haben für sie gestimmt.“
„Auch ich habe sie gewählt“, verriet er ihr, während er den Mantel anzog.
Edgar Baumann wartete in seinem Einsatzwagen auf dem Markt direkt vor dem Rathaus.
„Was ist passiert?“, fragte Rodig beim Einsteigen.
„Im Dom gibt es einen Toten …“
Rodig ließ ihn nicht aussprechen: „… nein – nicht schon wieder im Dom“, stöhnte er. „Wir haben doch noch nicht einmal den alten Fall aufgeklärt …“
„Ja – das hat mein Chef auch gesagt“, bemerkte der junge Mann. „Es ist aber so.“
„Und – was hat er noch gesagt?“
„Er sagte nur, dass der Tote ein Domwächter sei und ich Sie holen soll.“
„Haben Sie den Toten gesehen?“
„Nein. Ich habe überhaupt noch keinen Toten gesehen.“
Rodig dachte in diesem Moment an den IT-Experten aus Berlin, der erst vor wenigen Monaten bei wissenschaftlichen Arbeiten an den Stifterfiguren zu Tode kam. Der Fall hatte großes Aufsehen erregt. Das BKA schaltete sich ein und übernahm die Ermittlungen. Eine französische Journalistin geriet in Verdacht, doch man konnte ihr nichts nachweisen. Sie hatte ein hieb-und stichfestes Alibi. Die Untersuchungen waren erst vor zwei Wochen offiziell eingestellt   und der Tod als Unfall deklariert worden.
Rodig sah das anders, konnte sich aber gegen seinen Chef und die Berliner Kollegen vom Bundeskriminalamt nicht durchsetzen. Er glaubte an keinen Unfall.
Während sie durch das nächtliche Naumburg fuhren, begann der junge Beamte zu erzählen: „Es war kurz vor 23 Uhr, als ein älterer Mann in unserer Revierwache auftauchte und um Hilfe bat. Er sagte, er heiße Erich Rastmann und sei einer der Domwächter. Er habe das schreckliche Gefühl, seinem Kollegen könnte etwas zugestoßen sein.“
„Und – was noch?“, Rodig wurde ungeduldig. „Machen Sie’s kurz, wir sind gleich beim Dom.“
„Er erzählte, dass sein Kollege Thomas Wallenstein, ein äußerst zuverlässiger Mann, heute Nacht den inneren Kontrollgang übernommen hatte, während er den Kreuzgang, die nördlichen Außentüren und das angrenzende Gelände überprüft habe. Anschließend wollten sie sich, wie immer, vor dem Dombrunnen treffen. Er sei aber nicht erschienen.“
„Warum hat er selbst nicht nachgesehen?“
„Das haben wir ihn auch gefragt. Er hatte nur den Kopf geschüttelt.“
„Und weiter …?“
„Wir fuhren mit ihm zum Dom. Mein Chef ging mit Herrn Rastmann hinein, während ich draußen auf dem Vorplatz wartete. Nach etwa einer viertel Stunde rief mich mein Chef an und sagte, ich solle Sie holen.“
Rodig blickte auf seine Armbanduhr, es war kurz nach ein Uhr. Auf dem Domvorplatz parkte der Wagen der Spurensicherung und das Auto des diensthabenden Gerichtsmediziners Dr. Haverstein. Bevor er ausstieg, wählte er die Handynummer von seinem Mitarbeiter Kommissar Nolde – dessen Mailbox sprang an. „Hier Kommissar Rodig – melden Sie sich umgehend bei mir. Es gibt Arbeit!“
„Die sollten Sie ablegen“, sagte der junge Polizist etwas schüchtern und deutete auf die Papiermütze auf seinem Kopf.
„Danke“, murmelte Rodig und warf die Kopfbedeckung auf die Rückbank des Wagens. Dann stieg er aus.

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