Das Weihnachtsdorf
Gelesen am 16. Dezember 2016 im Hagener Bierstein in Ahrensburg
Bevor wir uns hier am Hagen angesiedelt haben, lebten wir in einem beschaulichen Dorf in Schleswig-Holstein, dessen Namen sie vielleicht erraten werden, wenn ich Ihnen mehr von diesem erzählt habe.
Obwohl wir uns dort sehr wohlgefühlt haben, sind wir weggezogen. Uns fehlten gewisse Annehmlichkeiten, die wir hofften, in der Stadt Ahrensburg zu finden. Außerdem gefiel uns die Nähe zu Hamburg und dem Naturschutzgebiet.
Nicht verschweigen will ich, dass uns auch der ländliche Charme des Hagen mit seiner Vergangenheit ansprach. Vor mehr als 13 Tausend Jahren haben hier schon Menschen gelebt.
Die heutige Siedlung Am Hagen ist natürlich deutlich jünger. Der Braune Hirsch und der Bahnübergang sind, wie die ersten richtigen Häuser, erst viel später entstanden. Ob die Hagener die damaligen Rentierjäger als ihre Vorfahren betrachten, bleibt ihnen selbst überlassen.
Heute will ich aber nicht die Geschichte vom Hagen erzählen, die sie möglicherweise alle besser kennen, sondern von unserem Dorf, dem wir uns noch immer sehr verbunden fühlen.
Unser Dorf war nicht so alt, aber dennoch ein ganz besonderer Ort. Es war nicht groß, es gab größere Gemeinden. Es war auch nicht klein, es gab kleinere Orte in unserem Kreis.
Unser Dorf war – das kann ich mit Überzeugung sagen – das schönste im ganzen Land – und es besaß einen besonderen Ruf – man nannte es das Weihnachtsdorf.
Zugegeben, unser Dorf hatte kein Schloss und auch kein Einkaufszentrum. Unser Rathaus war im Vergleich zu den städtischen Verwaltungsburgen im Land klein und auch nicht denkmalsgeschützt. Wir hatten auch keinen richtigen Marktplatz, sodass wir uns über dessen Ausgestaltung nicht den Kopf zerbrechen mussten.
Die Dorfmitte war ein freier Platz, auf dem man sich traf, verweilte und sich über den neuesten Klatsch und Tratsch informierte, sofern man nichts Wichtigeres zu tun hatte.
Natürlich gab es auch eine richtige Schule mit einer Turnhalle, eine aktive Kirchengemeinde mit einem sehr gemischten Chor und eine freiwillige Feuerwehr, die für das alljährliche Osterfeuer zuständig war.
Regiert wurde unsere Dorfgemeinschaft offiziell von einem Gemeinderat, in Wirklichkeit aber von unserem tüchtigen Bürgermeister.
Und darin, so meine ich, unterschieden wir uns von vielen anderen Gemeinden und Städten unseres Kreises. Unser Bürgermeister stammte selbst aus dem Dorf und war noch ein richtiges Mannsbild, mit vielen Talenten und mit allen Wassern gewaschen. Er wusste, was für seine Bürger gut und wichtig war und was sie partout nicht mochten.
Dass er etwas eitel war und sich gern in der Zeitung abgebildet sah, konnte man ihm nicht ankreiden, da seine Kollegen anderswo es ähnlich hielten.
Die Sitzungen des Gemeinderates dauerten meist nicht lange und endeten immer in der Dorfschänke, wo die wirklichen Themen besprochen und die nächsten Feierlichkeiten vorbereitet wurden.
Unser Dorf war dafür bekannt, dass es gern und ausgiebig feierte. Jeder Anlass war willkommen und wurde in großer Runde begangen. Ob Fasching oder Tanz in den Mai – beide Ereignisse hatten häufig Folgen, die meist nach neun Monaten sichtbar wurden. Das Erntedankfest war eine totale Lustbarkeit. Unser Dorf hatte damals die beste Kinderquote im ganzen Land.
Absoluter Höhepunkt war die Weihnachtszeit, die wir wie eine eigene Jahreszeit begingen. Die Feierlichkeiten begannen weit vor dem Ersten Advent. Die Dorfbewohner putzten ihre Häuser und Straßen heraus. Weihnachtsgirlanden, Lichterketten und Tannenbäume, schmückten die Gärten und Geschäfte, die sich auf das totale Weihnachtsgeschäft eingestellt hatten.
Und sobald auf dem Dorfplatz der Weihnachtsbaum in seiner ganzen Pracht strahlte, war der Weihnachtsmarkt offiziell eröffnet. Es war Tradition, dass dem Bürgermeister als Weihnachtsmann verkleidet, das erste Glas Glühwein zustand. Natürlich blieb es nicht sein Einziges.
Selbst aus den umliegenden Gemeinden, der fernen Kreisstadt und sogar aus unserer Landeshauptstadt, kamen die Gäste. Im Laufe der Jahre hatte es sich herumgesprochen, dass nur in unserem Dorf richtig Weihnachten gefeiert wird und dass unser Glühwein nach dem fünften oder sechsten Becher ganz besonders schmecken würde.
Nur der Pastor und unser Dorfpolizist mussten sich beim Glühwein zurückhalten, was ihnen schwerfiel. Sie achteten darauf, dass es trotz der ausgelassenen Stimmung gesittet zuging.
Man kann sagen, unser Weihnachtsmarkt wurde im Laufe der Jahre zu einer festen Einrichtung in unserer Gegend und daran hätte sich auch nichts geändert, wenn nicht eines Tages unser umtriebiger Bürgermeister die Dorfgemeinschaft mit einer ungewöhnlichen Idee überrascht hätte.
Er war nämlich der Meinung, dass wir uns nicht mit dem üblichen Weihnachtsmarkt begnügen sollten, da inzwischen überall in den Dörfern und Städten die Glühweinbuden wie Pilze aus dem Boden schossen. Er wollte dem Fest einen neuen, kulturellen Höhepunkt geben.
Dieser Anregung wurde nicht widersprochen, zumal sie vom Bürgermeister höchst persönlich stammte und auch Dörfler nichts gegen Kultur haben sollten.
Erst als er mitteilte, dass er für das bevorstehende Fest ein richtiges Weihnachtsstück schreiben werde, wurden wir nachdenklich.
Manche sorgten sich um das Ansehen der Gemeinde, andere fürchteten, dass der Bürgermeister größenwahnsinnig werden könnte. Wir kannten seine Begabungen und schätzten ihn im Großen und Ganzen als tüchtigen Bürgermeister, wir konnten uns aber beim besten Willen nicht vorstellen, dass er auch über schriftstellerische Fähigkeiten verfügt.
Ein Drehbuch für eine Weihnachtsgeschichte zu schreiben ist schon etwas Besonderes.
Der Bürgermeister ließ aber erst gar keine Zweifel aufkommen und versicherte, dass man sich keine Sorgen machen müsse. Was andere können, kann er als Bürgermeister schon lange.
Er würde ein Stück schreiben, von dem selbst die Kulturredakteure der Zeitungen beeindruckt sein würden.
Damit gab man sich im Dorf zufrieden. Einige von uns rechneten damit, dass er schon bald das Handtuch werfen würde und sich damit die Sache erledigt hätte.
Die hatten sich allerdings verschätzt. Unser Bürgermeister dachte nicht daran, das Handtuch zu werfen und klein beizugeben. Das passte nicht zu ihm. Auch als die Zeitungen über den „Dorfpoeten“ und „Bauerndichter“ berichteten, ließ er sich nicht beirren. Er war fest entschlossen, aus der biblischen Weihnachtsgeschichte ein richtiges Theaterstück und unser Dorf damit berühmt zu machen.
Ab sofort sah man ihn immer seltener in der Öffentlichkeit oder im Amt. In der Dorfschänke blieb der für ihn reservierte Platz oft leer. Und wenn er mal aufkreuzte, weil er sich inspirieren lassen wollte, wirkte er nachdenklich und geistesabwesend.
Der Wirt gab dann den anderen Gästen zu verstehen, sich angemessen zu verhalten, damit sich der Bürgermeister auf das Dichten konzentrieren könne.
Seine Frau litt unter den anspruchsvollen Ambitionen ihres Mannes, zumal sie ihn nur noch selten sah.
Eines Tages sprach sie ihn darauf an, weshalb er sich nachmittags so häufig in der Schulbibliothek aufhalte. Umständlich erklärte er, sich mit der jungen Lehrerin beraten zu müssen, die schließlich, so stellte er es sich vor, die Rolle der Heiligen Maria spielen sollte. Dass die Lehrerin in Wirklichkeit ihm beim Dichten half, wollte er nicht zugeben.
Seine Frau fand das gar nicht gut. Die junge Lehrerin war eine auffallende Erscheinung, die sich auch nicht genierte, ihre naturgegebenen Reize zur Geltung zu bringen. Dass gerade sie die schlichte Maria spielen sollte, konnte sie sich nicht vorstellen. Sie war wohl die einzige Person im Dorf, die die Vorweihnachtszeit nicht so unbeschwert genießen konnte.
Als unser Bürgermeister meinte, sein Stück fertig zu haben, rief er den Kulturkreis der Gemeinde zusammen, um ihn über seine Weihnachtsgeschichte zu informieren und um die Rollenverteilung zu besprechen.
Die Mitglieder des Kulturkreises, die anfänglich große Bedenken hatten, waren angenehm überrascht, was er ihnen vortrug und sparten nicht mit Komplimenten.
Sie erklärten sich ausnahmslos bereit, ihn zu unterstützen und waren auch willig, Rollen zu übernehmen.
Dass der Hauptmann der Dorffeuerwehr den Josef spielen sollte, fand allgemeine Zustimmung.
Bei der Lehrerin, die er für die schwangere Maria vorgesehen hatte, kamen einigen Frauen Bedenken, die der Bürgermeister kurzerhand beiseite wischte. Die anderen Rollen waren schnell besetzt. Und wer keine abbekam, durfte Schafhirte spielen. Am Ende gab es mehr Hirten als Schafe.
Unsicher war man sich, ob, wie in der biblischen Geschichte, ein echter Esel mitspielen sollte.
Über diese Frage wurde lang und breit diskutiert, zumal man im Dorf keinen echten Esel hatte.
Die einen meinten, dass der Esel nicht so wichtig wäre und man auf ihn verzichten könne. Andere meinten, dass gerade der Esel der Geschichte einen realistischen Bezug vermitteln würde.
Zu den Befürwortern zählten auch die beiden Ortsvorsitzenden der Parteien im Gemeinderat, die ebenfalls tragende Rollen übernommen hatten. Sie hielten den Esel für absolut wichtig und sicherten dem Bürgermeister zu, eine Rundfrage bei den Mitgliedern zu starten, wer ihnen einen echten Esel für das Weihnachtstheaterstück ausleihen könne.
Nachdem alles besprochen war, begannen die Proben im Saal der Gastwirtschaft. Anfänglich verliefen sie eher schwierig, weil einige Akteure sich mit ihrer Rolle schwertaten. Die einen vergaßen immer wieder ihre Texte, die anderen meinten, die kleinen, von ihnen vorgenommenen Korrekturen würden bereichernd wirken.
Der Bürgermeister akzeptierte die Textverbesserungen, ihn besorgte mehr
der junge Hauptmann der Feuerwehr, der wiederholt Amok lief. Er hatte sich leidenschaftlich in Maria, die junge Lehrerin verliebt. Dass sich ihr äußerer Zustand im Laufe der Proben sichtbar veränderte, fiel ihm zwar auf, er deutete es aber so, dass dies der Rolle als schwangere Maria geschuldet sei.
Auf den Esel mussten sie bei den Proben verzichten, da sein Halter ihn erst zur Generalprobe vorbeibringen wollte. Auf jeden Fall – so versicherte er – werde ein echter Esel mitwirken.
Und dann war es endlich so weit. Alles war für die Generalprobe vorbereitet. Die Kulissen waren gemalt, die Kostüme genäht und ein Stall aus Brettern und Baumstämmen errichtet worden, in welchem eine Krippe stand.
Anfangs lief alles recht gut, sieht man einmal davon ab, dass der Doktor vor Aufregung plötzlich erkrankte und der Pastor als Souffleur einspringen musste.
Zur allseitigen Freude der Beteiligten war der Esel pünktlich eingetroffen. Da er die schwangere Maria tragen sollte, musste Josef ihr beim Aufsitzen behilflich sein.
Offensichtlich hatte er dabei Maria etwas zu beherzt angefasst. Ein kurzer Schrei und ein „Pass doch auf“!, hatten den trägen Esel erschreckt. Er machte einen Sprung und seine Hinterbeine flogen in die Luft. Niemand hätte diesem Tier eine so temperamentvolle Äußerung zugetraut. Josef konnte seine Maria gerade noch auffangen.
Für einen kleinen Moment war es auf der Bühne mucksmäuschenstill. Selbst der Pastor in seinem Souffleurkasten reckte sprachlos seinen kahlen Kopf heraus.
Da trat, souverän wie immer, die Vorsitzende der Seniorengruppe vor, die zugleich die Hebamme in unserem Dorf war.
„So, so“, sagte sie bedächtig, „unsere Maria spielt ihre Rolle ganz echt. Vielleicht wird es sogar ein richtiges Christkindl.“
Beruhigend tätschelte sie Marias Hand.
Alle Augen waren auf Maria, die Lehrerin gerichtet, die schützend ihre Hände vor ihren Bauch hielt.
Auch der Bürgermeister hatte mittlerweile seine Sprache wiedergefunden.
„Stimmt das?“, fragte er. Die Lehrerin nickte schwach und sah dabei den Feuerwehrhauptmann an. Der stand noch immer verdattert da. Ihm fehlten die Worte.
„Wir sollten für heute Schluss machen“, schlug die Seniorenfrau vor. Sie wusste, dass sie bald als Hebamme gefordert sein würde.
„Immerhin müssen wir morgen alle fit sein und unsere werdende Mutter sollte sich schonen, damit sie noch einmal die Rolle spielen kann.“
Alle stimmten ihr zu.
Ich kann mich kurzfassen:
Die Aufführung am Heiligabend war ein voller Erfolg. Schon mittags waren alle Plätze im Saal und in der angrenzenden Gaststube besetzt. Alle Akteure waren hochmotiviert.
Nur der Esel bereitete Probleme. Er war einfach nicht so viele Zuschauer gewöhnt. Als sein Auftritt kam, bockte er, stellte sich quer und zeigte sich uneinsichtig. Josef versuchte noch immer mit guten Worten das Tier anzutreiben, doch der Esel blieb störrisch und schüttelte den Kopf hin und her, wie das Esel ebenso machen und glotzte die Zuschauer an.
Auch die Lockrufe des Pastors aus dem Souffleurkasten beeindruckten ihn nicht. Erst als Maria ihm den Hals tätschelte und etwas ins Ohr flüsterte, war er bereit sich zu bewegen.
Vorsichtig hob Josef Maria auf den Rücken des Esels. Dann zogen sie zwei volle Runden über die Bühne zum Stall nach Bethlehem. Die Zuschauer applaudierten kräftig und der Esel revanchierte sich mit einem kräftigen IA-IA.
Als die Aufführung seinem Ende zuging war es offensichtlich, dass es bei Maria bald soweit sein würde und alle Zeugen eines menschlichen Wunders werden.
Den stürmischen Schlussapplaus konnte Maria nicht mehr auf der Bühne miterleben. Die Hebamme hatte sie in das vorbereitete Nebenzimmer geführt und ihres Amtes gewaltet.
Nachdem der Applaus im Saal verklungen war, hörten die Zuschauer einen kräftigen Baby-Schrei, der sogar den Esel erschreckte.
Der Pastor, der inzwischen aus seinem Souffleur-Kasten gekrabbelt war, hatte das Bedürfnis, auch einen Beitrag zu leisten. Kraftvoll stimmte er das Lied „Ihr Kinderlein kommet“ an. Immer mehr Stimmen setzten ein und bald füllte die weihnächtliche Weise den ganzen Raum.
Sie können sich sicherlich vorstellen, was anschließend an diesem Heiligabend in unserem Dorf los war.