Der Autor – Hubert Kinzel

Leseprobe aus der Kurzgeschicht „Totengesang“.

Es herrschte eine eigenartige Stimmung, als die Mädchen des Schulchores die nächtliche Klosterkirche betraten. Sie trugen schwarze Kutten und hielten brennende Kerzen in den Händen. Schweigend nahmen sie Aufstellung im Chor, der nur vom Schein der Kerzen ausgeleuchtet war. Auch die Besucher der traditionellen Gedächtnisfeier für die im letzten Jahr verstorbenen Mitschüler und Lehrer trugen brennende Kerzen.
Rolf Rolof Rautenberger saß in einer der hinteren Reihen und verfolgte die Zeremonie in diesem Jahr mit besonderer Ergriffenheit. Drei seiner ehemaligen Mitschüler waren auf ihrer gemeinsamen Rückfahrt von einem Klassentreffen unter bisher ungeklärten Umständen verunglückt. Ihr Tod hatte Rolf tief erschüttert. An jenem Abend wollte er mit ihnen zusammen zurückfahren, hatte aber im letzten Moment umdisponiert.
Der Unfall warf viele Fragen auf.

Rolf erschauderte, als die zarten Stimmen der Sängerinnen erklangen. Sie sangen das traditionelle Totenlied, mit dem schon seit Jahrhunderten der verstorbenen Mitschüler und Lehrer gedacht wird. Zwei Jungen und zwei Mädchen verlasen die Namen der im letzten Jahr Verstorbenen – so auch die Namen seiner drei verunglückten Mitschüler.
Das flackernde Kerzenlicht warf schemenhafte Umrisse auf die kahlen Wände und verlieh dem mittelalterlichen Kirchenraum eine gespenstische Atmosphäre. Rolf fragte sich: Wie oft werde ich an dieser Feier noch teilnehmen und wann wird man meinen Namen verlesen?
In Gedanken war er bei seinen toten Mitschülern. Mit ihnen hatte er vor mehr als fünf Jahrzehnten eine wichtige Phase seines Lebens verbracht. Obwohl er dem Schicksal dankbar sein wollte, fühlte er sich irgendwie mitschuldig an ihrem Unglück. Er hatte das bedrückende Gefühl, der Unfall habe ihm gegolten und seine Freunde seien statt seiner gestorben.
Die feuchte Kälte kroch den Anwesenden in die Gliedmaßen und ließ sie frösteln. Die traditionelle Ansprache des Rektors war kurz und der Chor stimmte gerade den Schlussgesang an, als plötzlich eine Gestalt aus dem Schatten einer Nische im Chor trat: „Ich möchte noch einen Namen nachtragen“, sagte sie mit fester Stimme. Sie blickte auf das Blatt in ihrer Hand und verkündete dann laut und deutlich den Namen: „Rolf Rolof Rautenberger“.

Rolf schrak auf, sein Körper begann zu zittern. Ihm wurde heiß.
Er zerrte an seinem Schal, um sich Luft zu verschaffen. Er glaubte zu fantasieren, der Widerhall seines Namens in dem großen Kirchenraum schien nicht enden zu wollen.