Leseprobe: Das Kopernikus-Vermächtnis

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Das sagt das Kriminetz

Leseprobe:

Teil 1

Auf dem Bismarckturm

Schon seit Stunden wütete über dem Saaletal das Gewitter. Den grellen Blitzen folgten in Sekundenschnelle rollende Donnerschläge. Sie verwandelten die Nacht in ein mächtiges Feuermeer und ließen die Erde erbeben.
Wolfram Gollwitz stand am Fenster der Souterrainwohnung und beobachtete, wie die Niederschläge die Terrasse vor dem Bismarckturm in einen See verwandelten und die ungestümen Windböen die Gartenmöbel und die Blumenkübel durch die Gegend wirbelten. Wo vor wenigen Stunden noch Gäste saßen und das hochsommerliche Wetter und den Ausblick auf die Weinberge genossen, herrschte nächtliche Untergangsstimmung.
Er hatte schon verschiedene Male hier oben gewohnt, doch solch ein Unwetter hatte er in dieser Gegend noch nie erlebt. Ihn faszinierten die ungezügelten Naturgewalten und das Chaos, das sie anrichteten. Verzückt starrte er nach draußen und verfolgte gebannt das nicht enden wollende Aufleuchten der Blitze und das Grollen der Atmosphäre.
Ein Blitz, abgeschossen wie ein Pfeil, traf die mächtige Eiche unweit der Terrasse. Ihm folgte ein ohrenbetäubender Schlag, der die Mauern des Turmes erschüttern ließ. Ächzend fiel ein riesiger abgespaltener Eichenast auf den überschwemmten Boden. Plötzlich herrschte Totenstille – das Gewitter war weitergezogen, der Regen hatte aufgehört.
Gollwitz öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus. Die Luft roch feucht und schweflig. Gierig sog er sie ein. Er wollte gerade das Fenster schließen, als er zwei Gestalten aus dem Turm kommen sah, die hastig zum überfluteten Parkplatz liefen, in ein bereitstehendes Auto stiegen und davonfuhren. Gollwitz schaute ihnen nach, bis die Rücklichter ihres Wagens nicht mehr zu erkennen waren. Dann schloss er das Fenster – unschlüssig ging er im Zimmer auf und ab.

Ein Schrei riss ihn am frühen Morgen aus dem Schlaf. Er sprang auf, öffnete einen Spaltbreit das Fenster und sah nach draußen. Auf der Terrasse stand zwischen den Wasserlachen Ludmilla, die Putzfrau. Sie schrie aus Leibeskräften und gestikulierte wild. In der linken Hand hielt sie ihren Putzeimer, aus dem Wasser schwappte. Der Gärtner ließ seinen Besen fallen, mit dem er versucht hatte, das Wasser von der Terrasse zu fegen, und eilte der schreienden Frau zur Hilfe.
Im gleichen Moment kam die Köchin aus der Küche gestürzt, ihr folgten der Jungkoch und zwei verschreckt wirkende Kellnerinnen.
Die Köchin fasste die schreiende Frau beherzt an den Schultern: „Was ist passiert, Ludmilla, warum schreist du so fürchterlich? – Beruhige dich!“
„Mann im Turmzimmer t-t-tot“, stammelte die Putzfrau mit hochrotem Kopf und zeigte mit dem ausgestreckten Arm zur Turmspitze.
„Tot?“, fragte die Köchin ungläubig.
„Da – da“, schluchzte Ludmilla in gebrochenem Deutsch, „alles voll Blut; Gast ganz tot, voll tot. Seine Augen gestarrt, ganz schrecklich geblickt, alles kaputt, umgekippt, toter Mann auf Boden.“
Ihre Stimme überschlug sich, sie suchte nach Worten. Ihr Mann, der Gärtner, griff nach ihrer Hand und versuchte sie zu beruhigen.
„Ich rufe die Polizei“, sagte die Köchin entschlossen und lief zurück  in die Küche.
Gollwitz verfolgte gespannt das Geschehen auf der Terrasse. Es war ein freundlicher Tag. Die ersten Sonnenstrahlen ließen die dramatische Nacht vergessen. Nur vereinzelt sah man noch Wasserpfützen auf der Terrasse. Der angekohlte Eichenast lag zersplittert quer über dem Sandweg, sein Laub war versengt.
„…im Turmzimmer…“ klang es Gollwitz noch immer im Ohr. Er überlegte: Auch er hatte einige Male dort oben im Turm  übernachtet, wenn das Souterrain-Apartement belegt war. Der Ausblick aus der Höhe auf das Saaletal und die gegenüberliegenden Weinberge hatten ihm gefallen, dennoch bevorzugte er das Doppelzimmer im Erdgeschoss.
Sie waren die einzigen Bewohner in dem burgähnlichen Gebäude – er und der Andere, der jetzt tot war. Die übrigen Gäste wohnten  in den angrenzenden Ferienhäusern.
Gollwitz stand noch immer am Fenster, als Herr Seibold, der  Inhaber des Bismarckturms, mit seinem Transporter auf den Hof fuhr.
„Gut, dass du kommst!“, rief ihm die Köchin entgegen. „Ludmilla sagt, der Gast im Turmzimmer ist tot. Ich habe bereits die Polizei verständigt.“
„Stimmt das?“, fragte Seibold die Putzfrau und machte ein ungläubiges Gesicht.
Sie nickte immerzu. „Ja – Mann ist tot“, wiederholte sie. „Ich denkte, Gast schon abgereist. Ich oben ankam, war Tür offen. Ich ins Zimmer guckte, da lag er, er mich anstarrte. Alles voller Blut; ich nach unten gerannt und bin gerufen.“
„Habe gerufen“, korrigierte ihr Mann, der neben ihr saß und ihre Hand streichelte. Er war einige Jahre älter als seine Frau und im Unterschied zu ihr ausgesprochen hager.
Gollwitz hatte gelegentlich mit dem Mann aus der Ukraine gesprochen, der sich sehr liebevoll um die Gartenanlage und den Berghang kümmerte.
„Sie haben alles richtig gemacht“, beruhigte Herr Seibold die Putzfrau. Er zog sein kariertes Taschentuch aus der Hosentasche und tupfte sich die Schweißperlen von der Stirn. „Ich werde nach oben gehen und mir das Zimmer ansehen“, sagte er, „bleiben Sie  hier sitzen.“ Und zur Jungkellnerin sagte er: „Bringen Sie Frau Schaljapin einen Kräutertee.“ Dann ging er zur Turmtür und öffnete sie zögernd. Er schien seinen ganzen Mut zusammenzunehmen.

Gollwitz schätzte Bernd Seibold wegen seiner unkomplizierten Art und seiner freundlichen Ausstrahlung. Er war ein mittelgroßer Mann Ende Fünfzig und stets voller Elan. Er verstand es,  erfrischend und ungezwungen mit seinen Gästen zu plaudern. Zusammen mit seiner Frau, der Köchin, bewirtschaftete er schon seit Jahren den Bismarckturm samt Restaurant und die angrenzenden Gästehäuser. Gollwitz hielt ihn für einen tüchtigen und erfolgreichen Geschäftsmann.
Er schloss das Fenster. Heute wollte er ausnahmsweise im Restaurant frühstücken. Bald wird die Polizei eintreffen, dachte er, während er die Zimmertür verschloss und über die Terrasse ins Restaurant ging.
Herr Seibold kam in diesem Moment die Turmtreppe herunter. Er war blass. „Nicht zu fassen“, murmelte er, „der Gast ist tot. Gut, dass du die Polizei verständigt hast“, sagte er, zu seiner Frau gewandt. „Geht an eure Arbeit“, befahl er den anderen, „ich werde auf die Polizei warten.“
Gollwitz war der einzige Gast im Frühstücksraum. Er hatte sich an einen der Fenstertische gesetzt, von dem aus er die Terrasse beobachten konnte.
Yvonne, die Jungkellnerin, war überrascht, als er im Restaurant erschien. Meist verzichtete er auf das Frühstück und ließ sich nur eine Kanne Kaffe bringen, die sie auf dem Sims vor seinem Apartment abstellen musste.
Sie begrüßte ihn kurz und stellte die Kanne Kaffee auf den Tisch. Ihr Gesicht war kreidebleich; sie schien Angst zu haben. „Kannten Sie ihn …?“, fragte er. Sie nickte.

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